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Kunst und Kultur zu Hohenaschau

Vom Flügelschlag des Schmetterlings

Von Klaus Jörg Schönmetzler *
Aus dem Katalog zum 20jährigen Jubiläum


Der Anlass der Feier bedarf zunächst keiner Begründung. Zwei Jahrzehnte des erfolgreichen Bestehens sind für jeden Kunstverein eine ansehnliche Strecke. Und wäre es auch nur ein liebenswürdiges Lokal-Ereignis: Der Verein aus Aschau im Chiemgau darf sich seiner Meriten gelassen sicher sein.

Aber es geht um mehr. Denn zwanzig Jahre „Kunst und Kultur zu Hohenaschau“ umschreiben zugleich ein Kapitel Kunstgeschichte. Als die Galerie im Amtshaus 1992 ihre Arbeit aufnahm, tat sie dies im Jahr der documenta IX, der vorerst letzten Weltkunstschau in Kassel, in welcher Jan Hoet dem Tafelbild einen nennenswerten Platz einräumte – seine Nachfolger Catherine David und Okwui Enwezor verabschiedeten sich von diesem scheinbar angetanen Medium fast vollständig, ließen die Malerei im besten Fall als ethnisches Dokument, als Ausdrucksform der Dritte-Welt-Kulturen am Rande passieren. Die Aschauer Galerie eröffnete zugleich in jenem Jahr, in dem die gegenständliche Malerei auf ihrem säkularen Tiefpunkt, in der finstersten Nische für Nostalgiker, Sektierer, Ewiggestrige herabgekommen schien. Es war ein Jahr, ehe sich der „Künstlersonderbund in Deutschland“ zur ersten Berliner Realismus-Triennale aufraffte (realisiert im Martin-Gropius-Bau am 6. Februar 1993), um wenigstens ein vages Lebenszeichen, eine Flaschenpost ins Weltmeer Kunst zu senden. Der Organisator Manfred Bluth – er war kurz darauf Ausstellungsgast der Aschauer Galerie – schrieb damals ebenso verzweifelnd wie beschwörend: „Nun wollen wir Realisten nicht länger am Katzentisch sitzen, sondern als legitimer Teil der Moderne begriffen werden.“ Als ob nicht die „Moderne“ sich als einzig legitime Gegenposition der durch Hitler und Stalin kontaminierten Gegenständlichkeit verstanden hätte.

Dies also waren die Bedingungen, als in der oberbayerischen Provinz ein neu formierter Kunstverein beschloss, dem malerischen Realismus eine Galerie zu widmen. Das Projekt erschien damals fast noch provinzieller als sein Spielort: Selbst die etablierten regionalen Kunstvereine krümmten sich vor Abscheu. Noch absurder war die Organisationsform. Denn wider alle Konventionen tat sich hier kein Häuflein aktiver Künstler zusammen, um der eigenen Arbeit durch ein etabliertes Forum Raum und Öffentlichkeit zu verschaffen. Vielmehr waren es Geschäftsleute, Anwälte, Hoteliers, die aus blankem wirtschaftlichem Kalkül ein sonst kaum nutzbares historisches Gebäude durch Malerei beleben wollten. Kunstverstand wurde mithin nicht einmal behauptet, sondern per Satzung delegiert: an einen krassen künstlerischen Außenseiter, dessen vermeintlich hyperrealistische, jedenfalls zutiefst romantisch deskriptive Malerei vor unliebsam modernen Überraschungen sicherstellen sollte.

Dieser bestallte Kurator des Vereins hieß Rudolph Distler und enttäuschte die Erwartungen vom ersten Tage an. Denn zur Eröffnung holte er Kurt Welther, einen Wiener Provokateur, in dessen Malerei – wie einst bei Klimt und doch ganz anders – Ornament, Erotik, Ironie und kalkuliertes Ärgernis zusammenflossen. „Lauter Nackerte“ schrie aufgestört die Klientel. Doch eben die Nichterfüllung der erwarteten Klischees verlieh der Galerie spontanes Leben. Und der äußere Erfolg, die öffentliche Resonanz besänftigte zumindest einen Teil jener Vereinsmitglieder, die zur Vernissage mit versteinertem Gesicht und knirschenden Zähnen durch die Räume irrten (ein anderer Teil verabschiedete sich kurz und schmerzhaft).

Statt der erhofften sicheren Bank war so ein offener Weg ins Abenteuer angetreten. Einer, auf dem Rudolph Distler immer öfter, immer weiter über den eigenen Schatten springen musste. Ein Weg, der zugleich seine eigene Malerei veränderte, der mit jeder Fremderfahrung ihn selbst auf den Prüfstand setzte. Wenn seine Aquarelle heute zu 95 Prozent der konkreten Farbraum-Malerei Mark Rothkos entstammen könnten und nur wenige Details die Abstraktion in jähen Realismus überführen, ist dies nicht zuletzt dem Evolutionsprozess der Galerie geschuldet. Distler ertastete sich den Pfad anfangs denn auch behutsam, prüfte sorgsam das Terrain, auf dessen Erkundung er sich eingelassen hatte. Trotzdem wurde bereits im zweiten Jahr mit der Klaus Fußmann-Werkschau eine Wegmarke gesetzt, deren Richtungsweisung über zwei Jahrzehnte forttrug.

Die Aschauer Galerie verstand sich von Anfang an als überregionales Forum. Gewiss pflegte Distler auch persönliche Kontakte – nach Salzburg zum Aquarellisten Bernhard Vogel, nach Wien zum phantastischen Realisten Kurt Regschek (der in Aschau die Landschaftsmalerei für sich erschloss), nach Südfrankreich zu dem britischen Pastellmaler Simon Fletcher, vor allem aber in den Münchner Raum zu subtilen Fotorealisten wie Josef Giggenbach, Max Pfaller und Ulrike Turin, zu heiteren Mystikern wie Toni Waim, zum schrulligen Humor eines Rainer Zimnik. Aber dann ging er zunehmend auf Jagd- und Entdeckungsreise. Über Fußmann und Bluth tastete Distler sich an die virulente Berliner Kunstszene heran – und entdeckte dabei so makellos gediegene Begabungen wie Kathrin Rank, Thomas Kaemmerer, Philipp Mager, Mirko Schallenberg und Christopher Lehmpfuhl, aber auch so schrille Talente wie den Mauermaler Kiddy Citny und so eigenbrötlerisch verspielte wie den Objektkünstler Menno Fahl. Er widmete dem Braunschweiger Großmeister der Radierung Malte Sartorius und seinen Schülern eine eigene kleine Reihe. Er durchstreifte – gerade noch rechtzeitig – die mittlerweile Geschichte gewordene Künstlerkolonie im Münchner Domagk-Gelände. Er bezog dank Arthur Reutter die avancierte Graffitimalerei, dank H.D. Tylle die bildnerische Industriereportage in das Themenfeld des Hauses ein.

Natürlich gab es dabei auch Missgriffe und Fehleinschätzungen – wie anders wäre es denkbar? Man erkennt sie leicht beim Überlesen der enormen Liste von gut hundert Ausstellungen: Jene paar Namen, die verhallt sind, die kein Echo mehr zum Klingen bringen – oder allenfalls ein mulmiges Gefühl, einen leicht bitteren Geschmack im Mund auslösen („Il resto nol dico“ sagt Mozarts Figaro). Es gab auch abgerissene Fährten: die nach Spanien zu Antonio Villanueva, nach Japan zu Ryusho Matsuo, nach Osteuropa zu Nikolay Karamfilov – Kunstregionen, über die man gern mehr erfahren hätte. Aber es stellten sich auch jene unverhofften Glückszufälle ein, die zwar gestaltbar, doch nicht wirklich planbar sind. So motivierte Distler den exzeptionellen Landschafter und Stillebenmaler Friedel Anderson, einen eigenen Aschauer Zyklus zu schaffen. Er holte internationale Stars wie Ernst Fuchs, Johannes Grützke und Max Kaminsky ins Priental. Und schließlich gelang ihm nach zäher Bemühung der Kontakt, sogar die spröde Freundschaft zum Begründer der Neuen Leipziger Schule Arno Rink. Drei Jahre lang wurde der damalige „Hot Spot“ Leipzig zum Generalthema der Galerie – und der Name Aschau zur Überraschung der Fernsehmagazine und Feuilletons. Denn mittlerweile hatte sich der Kunstmarkt selbst um 180 Grad gedreht. Der Realismus wurde spätestens dank Leipzig neue Leitkultur – und die Galerie zu Aschau durch den Paradigmenwechsel zum Treff junger Kunst (man hätte vormals „Avantgarde“ dazu gesagt, doch dieser Begriff hat in der Pluralität der Stile jeden Sinn verloren). War Aschau an diesem Paradigmenwechsel – und sei es in der Dimension des sprichwörtlichen Schmetterlingsflügels – mit beteiligt? Es ist nicht rundweg auszuschließen. Denn durch die schiere Existenz dieser heute im ganzen deutschen Sprachraum bekannten und diskutierten Adresse wurde vielen Künstlern Mut gemacht, wurde die Definition dessen, was Realismus sei, von neuem hinterfragt, wurde statt Hergebrachtem immer auch das Experimentelle, Innovative des Leitthemas ausgelotet.

Dazu waren – entgegen dem Plan der Gründerväter – schon früh neue Konzepte, neue Räume nötig. 1999 wechselte der Verein aus dem historischen Amtshaus in die Galerie an der Festhalle – und damit in angrenzende Nachbarschaft zum örtlichen Veranstaltungszentrum sowie zum Atelier des Top-Designers Nils Holger Moormann. Wie nebenbei bekam der kulturelle Standort Aschau durch die Arbeit des Vereins ein neues Profil. Und seit 2010 der Kurator Rudolph Distler zum Vorsitzenden gewählt wurde, ist auch die personelle Trennung zwischen Förderverein und künstlerischem Leiter sinnstiftend aufgehoben. Das Jubiläumsjahr hat den Charakter eines des Rückblicks auf die Kunsträume Berlin, Leipzig, München, auf prägende Inspirationen wie das Werk Klaus Fußmanns, Friedel Andersons und selbstverständlich Rudolph Distlers. Aber es folgt damit einer bewährten Tradition der Galerie: einmal gezeigte Künstler nicht aus den Augen zu verlieren, sondern mehrfach von neuem zu befragen, anhand ihrer individuellen Entwicklung dem Lauf der Kunst selbst nachzuspüren.

Fraglos sind zwanzig Jahre im Leben einer solchen Galerie eine bedeutsame Etappe. Die bisherigen Themen scheinen weitgehend ausgereizt. Einer jungen Generation von Künstlern sind die Grabenkämpfe des vergangenen Jahrhunderts kaum ein müdes Schulterzucken wert. Nicht die Verhärtung alter Ideologien, sondern die Beliebigkeit des „Anything goes“ prägt die Debatte. Ein immer schneller rotierender Markt setzt Schwerefelder und Gewichte, deren Sog man sich wahlweise stellen – oder bewusst entziehen kann. In dieser Gravitation muss sich die Galerie künftig beweisen – ebenso wie in der Einbeziehung aller, auch der elektronischen Medien, zwischen denen nunmehr die Malerei ihren Standort finden und neu definieren muss. Es wird in jedem Fall spannend. Und es bleibt eine Ehre, dabei zu sein.

* Klaus Jörg Schönmetzler ist Kulturreferent des Landkreises Rosenheim